Die stumme Präsenz einer Kiste

Büchnerpreisträger Lukas Bärfuss las in der Büchnerstadt

Lukas Bärfuss während seiner Lesung in der BüchnerBühne
Lukas Bärfuss und Büchnerhausleiter Peter Brunner vor dem Büchnerhaus.
Lukas Bärfuss im oberen Stock des Büchnerhauses, im Hintergrund ein Bildnis Georg Büchners.

„Er ist wirklich da!“, begrüßte Werner Schmidt, Vorsitzender des Vereins BüchnerFindetStatt, unter befreiendem Gelächter des Publikums - und nicht zuletzt der Hauptperson des Abends – am Abend des 1. Mai die Menschen im gut gefüllten Theatersaal der BüchnerBühne Riedstadt. Denn nachdem Lukas Bärfuss, Büchnerpreisträger von 2019, im Jahr 2020 wegen der Pandemie nicht in der Büchnerstadt hatte lesen können und auch mehrere Verschiebungen geplatzt waren, machte es die Deutsche Bahn am Schluss noch einmal spannend.  

Erst mit zweistündiger Verspätung traf der Schweizer Autor von der Leipziger Buchmesse in Riedstadt ein. Das reichte zwar nicht mehr für einen Vorab-Besuch des Geburtshauses Georg Büchners, aber für einen pünktlichen Beginn der Lesung, die auf Einladung der Stadt in der BüchnerBühne stattfand. „Wir sind stolz darauf, dass die Büchnerstadt den Büchnerpreisträger Lukas Bärfuss im Geburtsort Georg Büchners begrüßen kann“, hieß Erster Stadtrat Ottmar Eberling den Schriftsteller, Bühnenautor, Theaterregisseur und Dramaturgen in Riedstadt willkommen.  

Mitgebracht hatte Bärfuss seinen neuesten Roman „Die Krume Brot“, der erst am 18. April erschienen ist. Doch zuvor las er noch aus dem Essay „Die Kiste meines Vaters. Eine Geschichte über das Erben“, erschienen im Herbst letzten Jahres. „Ein ungeplantes Kind, aber das sind ja oft die liebsten“, erklärte er schmunzelnd. Denn entstanden ist das Buch nach einer Vorlesung, die er auf Vorschlag seines Verlages zu einem Buch umarbeitete. Zugesagt habe er „in einer Sonntagsfrühstückslaune“ und nicht bedenkend, wie viel Arbeit in der Umarbeitung stecken würde.  

Die Kiste ist das Einzige, was dem Autoren von seinem Vater geblieben ist, der als schwarzes Schaf der Familie gegolten hatte, mit Gefängnisaufenthalten, Obdachlosigkeit sowie vielen Schulden und zu dem Bärfuss schon lange keinen Kontakt mehr gehabt hatte. Da er selber einen Teil seiner Jugend auf der Straße verbracht hat „war meine Kindheit bloß in Bruchstücken greifbar, und eines dieser Bruchstücke, ein wesentliches, war diese Kiste. Sie war ein Kuriosum, eine Anomalie, ohne Zweck oder Verwendung. Und doch enthielt sie einen Teil meiner Herkunft und ein Kapitel meiner Geschichte, aber da ich alles getan hatte, um eben dieser Herkunft oder Geschichte zu entkommen, hatte ich es vermieden, mich näher mit ihr zu befassen.“  

25 Jahre ruhte daher diese Kiste, bis ihn eine „gefährliche Neugier“ packte: „Ich konnte die stumme Präsenz der Kiste nicht ertragen, es war das Schweigen über meinen Vater, das ich darin hörte.“   Die Kiste des Vaters wird für Bärfuss Ausgangspunkt einer fulminanten Betrachtung über die Deutungshoheit von Herkunft und Familie – und damit zu einer faszinierenden Hinführung zu seinem neuesten Werk „Die Krume Brot“. Der Roman schildert die Geschichte Adelinas, Tochter italienischer Einwanderer, die als Mutter eines unehelichen Kindes in einen immer tiefer führenden Strudel gerät, Schulden anhäuft, ihre Arbeit und Wohnung verliert, bis schließlich auch ihr Kind verschwindet. Bärfuss las den Beginn des Romans, der Erklärungen für diesen Unglücksstrudel in der Herkunft seiner Protagonistin sucht und folgerichtig mit der Geschichte ihres Großvaters und ihres Vaters beginnt.  

Nach einem gelungenen Abend nahm sich Bärfuss am nächsten Tag noch viel Zeit, um seinen Besuch im Büchnerhaus nachzuholen. Büchnerhausleiter Peter Brunner und der ehrenamtliche Mitarbeiter Dirk Wenner führten den Schweizer Schriftsteller durch die Dauerausstellung zu Leben und Werk Georg Büchners und seiner Familie. „Das war nicht nur lehrreich, sondern sehr berührend“, bedankte sich Bärfuss am Ende.